02.05.2025

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Tanz mit den Göttern

01.03.2010
Der zentraltaiwanische Zhenlan-Tempel organisiert jedes Jahr eine „Reise“ seiner verehrten Matsu-Götterstatue. Die Ankunft der Statue folgt normalerweise auf eine Tempelprozession mit Sam Thài Tsú-Schaustellern. (Archivfoto)
Die World Games 2009, die im Juli vergangenen Jahres in der südtaiwanischen Hafenmetropole Kaohsiung stattfanden, erregten wegen des für Taiwan beispiellosen Umfanges der Veranstaltung, der atemberaubenden Architektur des Hauptstadions und der spektakulären Eröffnungszeremonie das Aufsehen der Menschen im In- und Ausland. Nach dem Muster der „einheimischen Mode“ präsentierte die Eröffnungsshow eine Vielfalt kultureller Symbole, darunter auch solche aus der volkstümlichen Tradition der Tempelfeste. Am Anfang einer Szene mit dem Titel „Segen für alle“ fuhren 40 Leute mit übergroßen Masken eines kindergesichtigen Gottes namens Lí Lô-tshia (李哪吒) und schmuckvollen Kostümen auf Motorrollern in das Stadion und tanzten dann zu elektronischer Musik herum. Anschließend kamen größer dimensionierte Ganzkörper-Puppen verschiedener Gottheiten herein — riesige bewegliche Figuren mit einer Person zur Bedienung drin — und außerdem Personen, die prächtige Baldachine, Banner und Sänften trugen und sich in einer Prozession bewegten, so wie es bei traditionellen Tempelparaden üblich ist, wenn der Geburtstag einer Gottheit gefeiert wird.

In der Tat konnte der Auftritt von Lí Lô-tshia — in Taiwans Holo-Dialekt (河洛語) meist unter dem Namen Dritter Prinz oder Sam Thài Tsú (三太子) bekannt — als Wiedergeburt der traditionellen Basiskultur gewertet werden, während die energiegeladene Musik bei der Veranstaltung den volkstümlichen Namen für solche Shows erklärte: Techno-Sam Thài Tsú.

Die Vorstellung bei den World Games, die für viele Taiwaner die denkwürdigste Veranstaltung des Jahres in ihrem Land war, hatte man als „exquisite, moderne und sehr taiwanische“ Volksreligions-Prozession konzipiert, enthüllt Ju Tzong-ching, Direktor der Eröffnungsveranstaltung und Präsident der Taipei National University of the Arts (TNUA). Eine örtliche Techno-Sam Thài Tsú-Gruppe in Kaohsiung und Schüler von verschiedenen Oberschulen der Gegend arrangierten den Auftritt für die Eröffnungsshow.

Ju hatte die Idee, die tanzenden Gottheiten in die World Games-Show einzubauen, nachdem er im Oktober 2008 eine ähnliche Vorstellung einer Techno-Sam Thài Tsú-Gruppe aus dem südtaiwanischen Landkreis Chiayi gesehen hatte, als die TNUA und ein örtlicher Tempel gemeinsam für ein jährliches Kunstfestival eine Volkskunst-Prozession organisierten. Die Gruppe aus Chiayi erregte damals die Aufmerksamkeit von Ju und vielen anderen Besuchern. „Diese einzigartige Verbindung von Altem mit Neuem, Andacht und Unterhaltung hat ein enormes Potenzial bei der darstellenden Kunst“, urteilt Ju, der selbst Musiker ist und früher Direktor des staatlichen Symphonieorchesters Taiwan war.

Prachtvoll kostümierte Mitglieder von You Zhong-bins Gruppe präsentieren sich bei einer Werbeveranstaltung als Wohlstandsgott (links), Erdgott (rechts) und Dritter Prinz. (Foto: Chang Su-ching)

Man nimmt an, dass der innovative Vorstellungsstil von einer Gruppe von Sam Thài Tsú-Gläubigen geschaffen wurde, die mit dem Chaotian-Tempel in dem Städtchen Beigang im zentraltaiwanischen Landkreis Yunlin in Verbindung stehen. Die Hauptgottheit in dem um 1700 gebauten Tempel ist die überall in Taiwan verehrte Meeresgöttin Matsu (媽祖), auch „Himmelskönigin“ genannt. Bei Prozessionen von Tempelfesten wetteifern die beteiligten Gruppen, die man im Holo-Dialekt tīn thâo (陣頭) — wörtlich „Front einer Formation“ — nennt, um die Gunst der Gläubigen und Zuschauer.

Die Menge in Stimmung bringen

Die Schaustellertruppen, zu denen Löwentänzer, Trommler und Artisten auf Stelzen gehören, schreiten der Gottheit bei den Feierlichkeiten voran und haben oft auch die Aufgabe, die Menge in Stimmung zu bringen. Für gewöhnlich werden die Veranstaltungen mit traditioneller dramatischer Musik untermalt, etwa pak kúan (北管, nördlicher Stil) and lâm kúan (南管, südlicher Stil).

Vor über zehn Jahren begann ein Sam Thài Tsú-Ensemble aus dem Chaotian-Tempel unter der Leitung von You Zhong-bin damit, Popmusik und einfache Tanzbewegungen in seine traditionellen Sam Thài Tsú-Prozessionen aufzunehmen. You meint, dass die vergleichsweise kleineren Kostüme für Sam Thài Tsú — die wenig mehr sind als eine große Maske und farbenprächtige Kleider und Anfang der sechziger Jahre als „Kinder“ der größeren Gottheiten aufkamen — dem Schausteller mehr Bewegungsfreiheit lassen als die traditionellen, größeren Körperpuppen.

Sam Thài Tsú, auf Chinesisch „Nezha“ (哪吒) und auf Japanisch Nataku oder Nata genannt, ist seit langem eine sehr beliebte volkstümliche Gottheit in ostasiatischen Gesellschaften und kommt nicht nur in klassischen chinesischen Romanen vor wie „Schaffung der Götter“ (封神演義) und „Reise nach dem Westen“ (西遊記), sondern auch in modernen Comics. Wie Gottheiten, die in der griechischen und römischen Mythologie gleichermaßen vorkommen, spielt Sam Thài Tsú einander entsprechende Rollen in buddhistischen und taoistischen Legenden, und seine Wurzeln lassen sich mit Nalakuvara, dem dritten Sohn des nördlichen Wächterkönigs Vaisravana, auf den altertümlichen Sanskrit-Text der Hindus zurückverfolgen. In der chinesischen Mythologie war Nezha der dritte Sohn von Li Jing (李靖), einem berühmten Militärführer, der vor über 3000 Jahren bei der Gründung einer neuen Dynastie beteiligt war und dann in den Ruhestand trat, um sich zu einem göttlichen Wesen zu entwickeln. Während die buddhistischen Texte Sam Thài Tsú überwiegend als Schützer buddhistischer Dekrete darstellen, wird er in den taoistischen Texten zu einem Marschall göttlicher Soldaten unter dem Himmelskaiser, worauf sich das militärische Image von ihm in Taiwans Volksreligion zurückführen lässt und weswegen er die Befehlsfahnen eines Kriegers auf dem Buckel trägt.

Sam Thài Tsú wird in der Folklore häufig als Problemkind geschildert, das ein gespanntes Verhältnis mit seinem Vater hatte. Nachdem er in noch sehr jungem Alter einen schweren Unfall verursachte, was sein Vater als unverzeihliches Verbrechen wertete, entleibte sich das Wunderkind, indem er seinen Körper in Stücke schnitt und sein Fleisch und die Knochen seinen Eltern zurückgab. Seine Wiedergeburt ereignete sich, als ein unsterblicher Weiser mit Lotusstämmen und –blüten den Körper des Jungen rekonstruierte. Der von dem Weisen mit Stärke und kraftvollen Waffen ausgestattete Sam Thài Tsú wird meist als Junge dargestellt, gekleidet in Lotusblätter und Blumen, fliegend mit einem Feuerrad unter jedem Fuß, eine rote Schärpe um die Schulter, in den Händen einen „kosmischen Ring“ und einen Speer haltend. Manchmal gibt man ihm mehrere Gesichter und zahlreiche Arme, um seine unglaubliche Kraft zu verdeutlichen. Als großartiger Krieger kann er viele böse Kräfte bezwingen und dazu beitragen, die himmlische Ordnung aufrechtzuerhalten.

Ein Techno-Sam Thài Tsú-Ensemble von der Chung Hwa School of Arts trat im Oktober 2009 bei einer Parade anlässlich des Yosakoi-Folkloretanzfestes in Japan auf. (Foto: Courtesy Chung Hwa School of Arts)

Der Gruppenleiter You Zhong-bin, der außerdem als Bildhauer von Götterstatuen tätig ist, glaubt, Götter wären nicht nur in der Lage, die Menschen zu segnen, sondern könnten ihnen auch Glückseligkeit bringen. Er sagt, der Lotus im Zusammenhang mit Sam Thài Tsú signalisiere ein neues, stärkeres Leben, das zukünftige Errungenschaften zum Ziel hat und sich nicht mit Reue über die Vergangenheit belastet. Wichtiger sei laut You, dass Sam Thài Tsú die Art von jungem Knaben sei, der dazu neige, Regeln und Beschränkungen zu ignorieren.

Wieder zum Leben erwacht

Diese jugendliche, rebellische Energie wurde zur Inspiration für Yous Absicht, den traditionellen Vorstellungsstil bei volkstümlichen religiösen Anlässen mit neuem Leben zu erfüllen. „Die folkloristische tīn thâo–Kultur befand sich im Niedergang, und ich versuchte, etwas Neues hinzuzufügen“, begründet You. „Wir spielen Popsongs, die das Publikum leicht in eine fröhliche Stimmung versetzen, während Sam Thài Tsú in einer lockeren, ausgelassenen Weise herumtanzt.“ Er bemerkt, dass die Vorsteher von Tempeln den spielerischen Stil seiner Gruppe zunächst nur zögernd zuließen, weil sie das für irgendwie unschicklich hielten, mit der Zeit aber positivere Ansichten zu dem Stil entwickelten, der die Götter ehrt und zudem die Menschen fröhlich macht. „Jetzt laden sie uns zu Auftritten ein“, freut er sich.

Jedes Jahr beteiligt Yous Ensemble sich an der jährlichen Pilgerreise der Matsu-Statue aus dem Chaotian-Tempel und feiert am 23. Tag des dritten Mondkalendermonats den Geburtstag der Göttin. Die Verbindung mit Matsu ist bedeutungsvoll, weil sie die am meisten verehrte Gottheit in Taiwan ist, und man huldigt ihr auf der Insel, seit vor rund 400 Jahren Han-chinesische Zuwanderer in großen Zahlen über die Taiwanstraße überzusiedeln begannen. Der Legende nach war Matsu im Jahr 960 in einer Familie, die in der südostchinesischen Küstenprovinz Fujian lebte, zur Welt gekommen. Da sie einen vollen Monat nach der Geburt nicht schrie, erhielt sie den Namen Lin Mo-niang (林默娘), zu Deutsch „stilles Mädel Lin“. Bevor ihr irdisches Leben im Alter von 28 Jahren endete, fiel sie gelegentlich in Trance und erschien Fischern, die auf See in Gefahr gerieten. Als Schutzpatronin der Seefahrer fuhr sie der Sage nach am neunten Tag des neunten Mondkalendermonats in den Himmel auf, dem gleichen Tag, der als Sam Thài Tsús Geburtstag gefeiert wird. In Taiwan gibt es über 800 Matsu-Tempel, und auf der Insel hat sich bei der Matsu-Verehrung eine ungleich größere Intensität und Vielfalt entwickelt als in Matsus Heimat auf dem chinesischen Festland. Matsu-Feiern sind hier jedes Jahr wie ein Karneval, besonders die einwöchige „Reise“ der Matsu-Statue, die der Zhenlan-Tempel in der zentraltaiwanischen Gemeinde Dajia (Landkreis Taichung) organisiert. Bei dieser Pilgerfahrt wandern die Gläubigen über eine mehr als 300 Kilometer lange Route an Dutzenden von Tempeln in Zentraltaiwan vorbei. Tatsächlich holen sich sogar manche ausländischen Matsu-Tempel mehr göttliche Inspiration von den taiwanischen Tempeln als von denen in Festlandchina. So erkennt beispielsweise der großartige Matsu-Tempel, der 2006 in der japanischen Stadt Yokohama gegründet wurde, den Großen Matsu-Tempel in der südtaiwanischen Stadt Tainan als sein „Mutter-Haus“ an.

Schausteller, die sich als unterschiedliche Versionen des Dritten Prinzen kostümiert haben, helfen auf einem Hypermarkt in Kaohsiung beim Verkauf von Geflügelprodukten aus dem Landkreis Yunlin. (Foto: Central News Agency)

Sam Thài Tsú-Vorstellungen beschränken sich nicht auf Tempelfeste, sondern können auch bei nichtreligiösen Veranstaltungen erlebt werden, die der öffentliche und der private Sektor ausrichten, etwa Wahlkampfversammlungen, wo sie sofort eine festliche Stimmung erzeugen und ein lokales Flair hinzufügen. You macht darauf aufmerksam, dass trotz der Herkunft in bestimmten religiösen Ritualen Techno-Sam Thài Tsú in erster Linie ein Ereignis ist, das Spaß machen soll, deswegen dürfen unterschiedliche Götterfiguren frei auf Bühnen aller Art erscheinen. Als beispielsweise vor kurzer Zeit im zentraltaiwanischen Landkreis Nantou eine staatlich geförderte Ausstellung zur Werbung für örtliche Firmen eröffnet wurde, präsentierte Yous Gruppe neben dem Dritten Prinzen auch den Erdgott und den Wohlstandsgott.

Tatsächlich bestehen nicht nur enge Verbindungen zwischen Sam Thài Tsú-Ensembles und Tempelvorstellungen, sondern Techno-Sam Thài Tsú pflegt außerdem Verbindungen zur einheimischen Musikszene. Der Auftritt von You Zhong-bins Gruppe bei der Ausstellungseröffnung im Landkreis Nantou etwa wurde zu dem Lied Fire dargeboten, einem Techno-Stück aus dem Jahr 2003 von Jerry Lo (羅百吉), das zu einer typischen Untermalung von Techno-Sam Thài Tsú-Shows geworden ist. Lo, ein Pop-Sänger und Komponist, der für seinen Techno-Stil bekannt ist, stand mit der Bewegung für Neue Taiwanische Lieder Anfang der neunziger Jahre in Verbindung, welche die Dominanz von Liedern mit mandarin-chinesischen Texten auf dem einheimischen Popmarkt brach. Die Bewegung trug überdies dazu bei, taiwanischer Popmusik als maßgeblicher kreativer Kraft im asiatischen Unterhaltungssektor Auftrieb zu geben.

Da die Bewegung für Neue Taiwanische Lieder manchmal auch als tai ke-Musikbewegung bezeichnet wird, nennt sich Yous Gruppe „Tai Ke Rock Techno Sam Thài Tsú“. Der Begriff tai ke (台客) — wörtlich übersetzt „Taiwan-Gast“ — erfuhr in den jüngsten Jahren eine Bedeutungsveränderung und wandelte sich von einem ehemals abschätzigen Begriff, der lokale Kulturlosigkeit oder schlechten Geschmack bezeichnete, heute zu einem Etikett des Stolzes auf die eigene Kultur und Anerkennung des Taiwan-Geistes. In einem Tai ke-Manifest aus dem Jahr 2005 von Wu Bai (伍佰), einem führenden Sänger, Komponisten und Rockmusiker der Bewegung für Neue Taiwanische Lieder, definierte der Künstler tai ke als unverwechselbare Art der Taiwaner, sich selbst zu erkennen, sich selbst anzunehmen und an sich selbst zu glauben. „Ich will eine Gangart finden, die es nur in Taiwan gibt“, schrieb er. Yous Gruppe wurde eingeladen, 2006 bei einem Tai ke-Rockkonzert in Taichung aufzutreten, das von Wu Bai mit organisiert wurde, und die Gruppe wurde Bestandteil dieser unverwechselbaren Gangart. You enthüllt, das Konzert in Taichung sei das erste Mal gewesen, dass die Gruppe unter dem Namen Techno-Sam Thài Tsú öffentlich auftrat.

Basiskultur

Nach den Worten von Kuo Tsun-sheng, Direktor der Abteilung für Kino und Theater an der Chung Hwa School of Arts in Kaohsiung, repräsentiert tai ke in Wirklichkeit eine Kraft der Basis und eine natürliche Qualität der taiwanischen Kultur. An der Techno-Sam Thài Tsú-Darbietung bei den World Games in Kaohsiung nahmen auch Studierende seiner Schule teil, und im Oktober 2009 wurde jene Gruppe nach Japan eingeladen, um am Yosakoi-Folkloretanzfest in der Präfektur Mie teilzunehmen, was unter der Schirmherrschaft von Taiwans staatlichem Tourismusamt über die Bühne ging. Das Ensemble von der Chung Hwa School of Arts fand beim japanischen Publikum großen Anklang, und Kuo kommentiert, die modernisierte Darstellung einer alten Volkskunst sendet eine lebhafte kulturelle Botschaft aus Südtaiwan nach Nordtaiwan und darüber hinaus in die internationale Szene. „Taiwanische Kulturelemente waren in der Vergangenheit unterdrückt oder ignoriert worden, heute finden sie ihre eigene selbstbewusste Stimme und Präsenz“, freut er sich. Vielleicht so wie bei der Wiedergeburt der jungen Gottheit Sam Thài Tsú.

(Deutsch von Tilman Aretz)


 


 

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